Verreise ich gerne?

Sehr gerne. Allerdings halte ich mich nie länger als ein paar Minuten an einem Ort oder Land auf. Habe ich etwas gesehen, fahre ich direkt wieder. Allerdings liebe ich die Fahrten und das könnte ich ständig tun.

Reiselust zählt nicht zu den Eigenschaften, die man Autisten gemeinhin nachsagt.

Stimmt, wir gelten nicht als unternehmungsfreudig. Für manche von uns ist schon der Gang zum Supermarkt eine Herausforderung. Es ist allerdings ein Vorurteil, dass wir nichts erleben wollen. Unsere sozialen Probleme halten uns vielmehr davon ab. Viele Asperger leben alleine und haben keine Freunde. Sie mögen Routine. Wenn Asperger unter sich sein können, können sie sich auch besser entspannen und Kontakte knüpfen. Ich selbst bin lange allein in den Urlaub gefahren. Einmal habe ich es mit einer Reisegruppe versucht. Das verlief katastrophal. Wären die Menschen besser aufgeklärt und es gebe spezielle Angebote würde es auch die Reiselust steigern.

Was war passiert?

Ich bin ziemlich angeeckt. Wir Asperger können Mimik und Gestik weder verstehen noch selbst anwenden. Menschen ohne Autismus – wir nennen sie neuronal typische Menschen – kommunizieren aber zu etwa 50 Prozent nonverbal. Das führt zwangsläufig zu Missverständnissen, wenn man in einer Gruppe unterwegs ist.

Welcher Art?

Was neuronal typische Menschen intuitiv erfassen, muss ich ständig analysieren. Mein Gegenüber lächelt: Ist er gut gelaunt? Freundlich? Oder macht er sich womöglich über mich lustig? Er lächelt nicht: Ist er abweisend? Habe ich was Falsches gesagt? Das schlaucht natürlich nach einer Weile. Dann muss ich mich zurückziehen und neue Kraft tanken. Das wird häufig falsch verstanden. Es heißt dann: Will der nichts mit uns zu tun haben? Viele Autisten sind außerdem geräuschempfindlich. Wie ich!

Eine Disco am Ballermann wäre als Abendunterhaltung also nicht gut geeignet.

Gar nicht. Mir fällt es schon schwer, einem Gespräch zu folgen, wenn um mich herum Stimmengewirr herrscht. Wir Asperger können auch ganz schön nerven, wenn wir mal einen Gesprächspartner gefunden haben. Small Talk ist uns ein Rätsel. Wir wissen gar nicht, wie das geht.

Worüber reden Sie mit nahezu Fremden, wenn das Wetter oder das Mittagessen als Themen nicht infrage kommen?

Am liebsten über unsere Spezialinteressen. Fast jeder Asperger hat Themen, mit denen er sich ganz intensiv beschäftigt. Bei dem einen sind es Züge bei mir sind es Filme.

Für Filme interessieren sich doch viele Menschen.

Stimmt. Aber nicht, wenn man sie eine halbe Stunde lang damit zutextet. Oft muss ich auch mit dem Kopf schütteln, wenn einige Leute dann nicht mal wissen was ein Score ist, die Situation hatte ich letztens bei einem Filmemacher der nicht wusste was ein Score ist. Da steigt bei mir das Arrogante und das Überlegende. Etwas was viele AS lieben, sich für etwas Besseres halten. Wir sind dann auch gerne mal sehr direkt. Neuronal typische Menschen nehmen das alles immer sehr persönlich, damit kommen wir nicht klar. Es ist unsere Art von Humor. Eine ganz freundliche Frau aus der AS Gruppe kann es zum Beispiel nicht leiden, wenn jemand neben ihr sitzt. Sie sagt dann: "Wenn du dich nicht wegsetzt, gehe ich." Wenn wir unter uns sind, akzeptieren wir so ein Verhalten, weil wir wissen, wie sich die anderen fühlen. Andere nicht!

Sie wissen erst seit 5 Jahren, dass Sie Autist sind?

Ja. Gerne hätte ich es schon 20 Jahre früher gewusst, was mit mir los ist. Asperger ist zwar nicht heilbar, aber viele Verhaltensweisen kann man sich antrainieren. Für mich war die Diagnose eine Riesenerleichterung. Meine Familie hingegen wusste es immer und hat versucht mich zu verstecken. Sie haben sich anscheinend geschämt.

Sie waren erleichtert, als Sie von Ihrer Behinderung erfahren haben?

Sehr. Gespürt habe ich es schon immer, dass ich anders bin. Ich hatte aber keinen Namen dafür. Auf dem Schulhof stand ich immer alleine herum. "Der ist so komisch", hieß es. Ich bin dann irgendwie klargekommen, habe Abitur gemacht. Seit 1995 arbeite ich verschiedenen Film-Bereichen und unterstütze Leidenschaftlich Künstler, angefangen habe ich als Redakteur bei einer Tageszeitung. Mein Lebenslauf ist aber nicht die Regel. Viele Asperger-Autisten leben von Hartz IV. Noch so ein Punkt, weswegen Reisen für sie schwierig ist: Es ist teuer. Auch für mich, denn meine Arbeit habe ich immer ehrenamtlich gemacht. Aufgrund der Behinderung ist die Gesetzeslage so, dass man vieles nicht darf oder für Dienste kein Geld in Anspruch nehmen darf. Mir ist es recht egal da ich es aus Leidenschaft mache, nur hin und wieder kommt man in einer finanziell schwierigen Lage. Aber Schulden habe ich nie gehabt.

Wie würde eine Reise bei Ihnen ablaufen?

Der Ablauf muss klar sein, spontan eine Aktivität dazwischenschieben geht nicht oder ist zumindest schwierig, viel Gedränge darf natürlich auch nicht herrschen. Extreme Pünktlichkeit ist ein Symptom der Störung.

Können Autisten eigentlich einen Sonnenuntergang genießen?

Ich selber schon. Autisten sind aber so verschieden wie neuronal typische Menschen auch. Viele von uns nehmen ihre Umwelt speziell wahr. Da setzt sich dann das Bild eines fremden Ortes aus etlichen Details zusammen.